Paris 5 October 1854. 

 
 Liebster Lehmann!
   
 Erläuterung zu: freundlichen BriefIhren freundlichen Brief habe ich gestern erhalten und beeile mich um so
5Erläuterung zu: die Pi###232;cenmehr Ihnen zu schreiben, da ich Ihnen anzeigen muß, daß die Piècen, die Sie
 mir zugeschickt haben, mir durchaus nicht zu Händen gekommen sind. Das
 Paket mit diesen kleinen Druckschriften, das Sie wahrscheinlich auf die
 Eisenbahn hieher gegeben, ist bis zu dieser Stunde nicht angekommen, und
 ich bitte Sie gefälligst darüber an die Behörden ein Rundschreiben zu erlassen;
10ich hoffe, auf diesem Wege wird mir das Paket bald zukommen. Ich habe meine
 Wohnung geändert, und wohne jetzt: aux Batignolles, 51, grande rue, Paris.
 Diese neue Wohnung, die ich comfortable einrichtete, werde ich dennoch
 gegen Ende dieses Monaths verlassen müssen, da die darin herrschende
 Feuchtigkeit mir eine Halsentzündung bereits zugezogen hat.
15Erläuterung zu: in Betreff der Allgemeinen Zeitung  Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Mittheilung in Betreff der Allge-
  meinen Zeitung. Wenn nicht durch Zufall, erfahre ich jetzt gar nichts, da ich
 Erläuterung zu: beiden Sekret###228;rengänzlich isolirt lebe, und außer meinen beiden Sekretären, die beide zu anständig
 sind, um sich mit deutschem Klatsch zu beschäftigen, sehe ich keinen einzigen
 Deutschen. Mein Buchhändler schreibt mir nur was eben seine eigenen Inter-
20essen betrifft. Aus Schonung wird mir auch vielleicht manches von dorther
 verschwiegen, was sehr lächerlich ist, da ich bereits früher gegen alle Roh-
 heiten abgehärtet war, und jetzt gar den meisten weltlichen Eitelkeiten ab-
 gestorben bin. Meine Frau hat die meisten Deutschen von meinem Hause
 verscheucht, manchen sogar im wahren Sinn des Wortes hinausgeschmissen.
25Auch sind viele in den letzten Jahren theils durch den Tod fortgerafft worden,
 theils abgereist, oder sitzen in Irrenhäusern oder Zuchthäusern, so daß ich,
 wie ich Ihnen sage, vom Vaterlande nichts erfahre, was mir doch manchmal
 nothwendig wäre, in Fällen, wo ich einer bestimmten Lüge widersprechen
 müßte, und in dieser Beziehung wäre es mir sehr lieb, wenn Sie mir häufiger
30schrieben; sicherlich kann mich nichts verletzen, und manches kann mich
 sogar amüsiren. Dann auch, da ich, sobald ich wieder zur Ruhe komme, mich
 ganz in meine Memoiren versenken werde, kann irgend eine Mittheilung
 über Schicksale und Transformazionen landsmännischer alter Freunde für
 mich von einigem Nutzen seyn. Manchen glaube ich lebend, der längst todt ist,
35und manchen glaube ich todt, der unterdessen bloß dumm geworden oder
 schlecht. – Sie haben keinen Begriff davon, welch ein Furore des Beifalls
 Erläuterung zu: mein Aufsatzmein Aufsatz in der Revue des deux Mondes gemacht hat. In einigen Wochen
 Erläuterung zu: Buch de l'Allemagnesoll er ganz gedruckt in meinem Buch de l'Allemagne erscheinen, für welches
 
  Oktober 1854 — HSA Bd. 23, S. 378
 
 derselbe als Schluß-Capitel geschrieben worden. Ich gebe meine Werke auf
 Französisch bei Michel Lévy frères heraus, die man mir als Verleger empfahl.
 Ich hatte die Wahl zwischen ihnen und einem andern Verleger, der ein ehe-
 maliger Bonnetier, das heißt baumwollener Nachtmützenfabrikant war, und
5ich gab erstern den Vorzug, vielleicht eben weil sie vom Stamme Levy. Ich
 glaube, daß Herr Lévy darum nicht minder ein ehrlicher Mann ist und mein
 Vertrauen verdient, und wenigstens ich, sollte ich mich auch zu meinem
 größten Schaden irren, ich darf vom alten Vorurtheil gegen die Juden
 mich nicht leiten lassen. Ich glaube, wenn man sie Geld verdienen läßt, so
10werden sie wenigstens dankbar seyn, und uns weniger übervortheilen als ihre
 christlichen Collegen. Die Juden überhaupt sind geistig zurück, aber nicht
 moralisch. Eine große Civilisazion des Herzens blieb durch eine ununter-
 brochene Tradition von zwei Jahrtausenden. Ich glaube, sie konnten deß-
 halb auch so schnell theilnehmen an der europäischen Cultur, weil sie
15eben in Betreff des Gefühls nichts zu erlernen hatten, und nur das Wissen sich
 anzueignen brauchten. Doch das wissen Sie alles besser wie ich, und es mag
 Erläuterung zu: Gest###228;ndnissenIhnen nur als Wink dienen zum Verständniß dessen, was ich in meinen »Geständ-
 nissen« gesagt habe. Aber wenn ich auch Campe den Auftrag gebe dasselbe
 Ihnen zu senden, so bekommen Sie es gewiß doch erst an dem Tage, wo
20auch der Messias eintrifft, wenn er, der alten Tradition nach, auf einem Esel
 kommt und nicht die Eisenbahn benutzen will.
 Erläuterung zu: Ihnen  Es ist mir unendlich lieb, daß Sie das was ich Ihnen über die Gasbeleuch-
 tungs-Flouerie des wackern Herrn Friedland gesagt, nicht vergessen haben;
 er hat meinen Bruder Gustav wirklich durch die abgefeimtesten Lügen von
25seiner Verfolgung meiner Interessen abzustehen vermocht, und er spekulirt
 auf meine Krankheit, die ihn von jeder Ahndung eines Morgens befreien
 würde. Er irrt sich aber sehr.
   Ich weiß kaum was ich diktire, so schläfrig macht mich nämlich der Ueber-
 genuß des Opiums, und ich schließe, indem ich Ihnen nochmals für Ihre Güte
30danke und Sie freundschaftlichst grüße.
 
Heinrich Heine.