Liebste Mutter, | ||
Seit Eurem letzten Schreiben denke ich nun an gar nichts anderes als an das | ||
freudige Wiedersehen mit meiner lieben Schwester. Alles ist schon ver- | ||
abredet daß mein liebes Lottchen bei seiner Hierherkunft bei uns ein wohn- | ||
30 | liches Zimmer findet, wo Lottchen und eine meiner Nichten (denn es wäre | |
mir am allererfreusamsten, wenn sie Anna oder Lenchen mitbrächten) sich | ||
behaglich finden werden. Ja, es würde mir eine unendliche Freude sein, wenn | ||
Lottchen auch eins der lieben Kinder mitbrächte, Annchen oder Lenchen, | ||
gleichviel welche, denn beide sind mir gleich lieb und nur das Alter entschiede | ||
35 | bei dem Vortritt. Wir wohnen sehr geräumig jetzt und alle Fremden welche | |
hierherkommen, bewundern die schöne Aussicht und die gute Luft die wir | ||
August 1855 — HSA Bd. 23, S. 444 | ||
genießen, so daß wir im glänzendsten Mittelpunkt von Paris uns befinden | ||
und doch wie auf dem Lande zu sein scheinen. Die letzte Woche waren Laube | ||
und seine Frau aus Wien hier und besuchten uns oft. Auch Friedland und seine | ||
Frau aus Prag. Dieser Mann hat, wie ich Euch einmal gemeldet, mir schon | ||
5 | einen Theil des Schadens ersetzt, worin ich durch ihn gerathen, und da ich | |
Wechsel habe und er sehr reich ist, so verliere ich am Ende gar nichts. Auch | ||
Dr. L. der mir ein Empfehlungsschreiben von Lottchen brachte, hat | ||
mich vor 8 Tagen besucht. Er scheint ein äußerst liebenswürdiger Mensch | ||
zu sein, hat ein gutes Aeußeres, spricht nicht dumm und hat mir versprochen | ||
10 | mich bald wieder zu besuchen. Er bleibt noch 5 Wochen hier und ich sagte | |
ihm, daß er Lottchen alsdann hier sehen würde. Meine Frau befindet sich wohl | ||
und sehr heiter. Ich leide noch immer an meinem alten Uebel, die Krämpfe, | ||
die zwar nicht sehr schmerzhaft sind, mich aber an jedem Lebensgenuß, be- | ||
sonders aber am Arbeiten stören. Mit Campe diplomatisire ich noch immer, | ||
15 | und wenn er sich auch auf den Kopf stellt, so lasse ich mich jetzt nicht mehr | |
von ihm über den Löffel barbieren. Er muß heimlich auf mich sehr ergrimmt | ||
sein und spielt mir gewiß allerlei böse Streiche im Dunkeln. Aber ich l a v i r e | ||
und am Ende erlange ich doch was ich will. Er wird wüthend sein, wenn er | ||
erfährt, daß Lottchen und Gustav nach Paris kommen. Schiff scheint sein | ||
20 | Factotum zu sein und Lottchen wird sich in Acht nehmen. | |
Meine Frau grüßt und küßt Euch herzlich und meine Wenigkeit thut des- | ||
gleichen. Ich umarme Dich zärtlich, meine gute, vortreffliche Mutter, und ich | ||
verbleibe mit innigster Liebe | ||
Dein getreuer Sohn | ||
25 | Harry Heine | |