Göttingen d 24' May 1824. 
  

 
 Lieber Christiani! Wenn man gar zu viel zu schreiben hat so schreibt man gar
 nicht, das ist allgemein gebräuchlich, und mein langes Stillschweigen bedarf
5also keiner besondern Entschuldigung. – Eigentlich wollte ich heute auch
 noch nicht schreiben, das Wetter ist feucht und dumpf und in meinem Kopfe
 sieht es noch feuchter und dumpfer aus; aber ich muß doch die Correspondenz
 wieder in Gang bringen; ich melde Ihnen also daß ich noch lebe, weiter nichts.
 Vielleicht in meinem nächsten Briefe erzähle ich Ihnen daß ich eine Reise
10gemacht, viele Menschen u Bestien gesehen u. s. w. Apropos: ich war auch
 Mitteilung zu: 150,000in Berlin. Diese Stadt liegt an der Spree, hat 150,000 Einwohner u 25
 Erläuterung zu: eine SeeleSeelen. Und eine Seele ist darunter die mich seelig machen könnte! O, Ihr
 Götter, bin ich noch nicht verrückt genug! Ich habe in Berlin viel antecham-
 brirt, viele höchstgnädige Blicke auf mich herabstralen lassen, alte Freund-
15Mitteilung zu: gekn###252;pft schaften fester geknüpft, gut gegessen, noch besser getrunken à la hafis,
 hinlänglichen Weihrauch eingeathmet, etwelche Küsse empfangen, 30 Ld'or
 ausgegeben, rasend viel dummes Gewäsche angehört u köstliche Stunden
 genossen. – Ich bin es wirklich nicht werth daß so viele gute Menschen ihre
 Mitteilung zu: kopfschmerzigenGeduld übten indem sie mich ärgerlichen, verdüsterten, kopfschmerzigen
20Menschen aufzuheitern u zu ergötzen suchten. Doch muß ich hinzusetzen
 daß es mein armer Kopf wirklich noch nicht erlaubt daß ich mich in allzugroßen
 Mitteilung zu: einlasseMenschenverkehr einlasse, u es war wirklich kein Eigensinn daß ich manche
 Liebeszuströmung ablehnte, und manchem Schönen und Guten geflissentlich
 auswich. Vous me connoissez.
25  Bey meiner Hinreise nach Berlin bin ich durch Magdeburg gekommen und
 habe 4 Tage dort mit Immerman verlebt. Wir stimmen herrlich überein; haben
 uns redlich liebgewonnen. Vor meine Muse zieht Immerman sehr tief den
 Hut ab. Mit rührender Demuth hat er mir manche seiner Blößen bekannt, und
 Mitteilung zu: geistigich habe daran ersehen daß er geistig noch größer ist als ich früher dachte.
30Mitteilung zu: besserImmermanns Aeußere ist nicht einnehmend; Ich sehe weit besser aus. Ueber-
 haupt scheint ihm die Jugend zu mangeln. Dafür aber ist er auch ein Coloß an
 Erläuterung zu: will die Hohenstaufen schreibenKraft und Ruhe. Er will die Hohenstaufen schreiben in einem Cyklus von 9
 Tragödien, und er sammelt jetzt die Materialien. Von dem bloßen Gedanken
 Erläuterung zu: An eine Trag###246;dieeiner solchen Riesenarbeit könnte ich schon den Tod aufladen. An eine
35Mitteilung zu: schreibtTragödie, die eine Magdalene zum Gegenstand hat, schreibt Immerman jetzt.
 Ein neues Lustspiel „das Aug der Liebe“ läßt er bey Schulz u Wundermann
 Erläuterung zu: Uebers. des Scottschen Ivanhoejetzt drucken; so wie auch eine Uebers. des Scottschen Ivanhoe, wozu er
 Mitteilung zu: Shakspeareeine Paralele zwischen Shakspeare u Scott schreiben wird. Eine kritische
 
  Mai 1824 — HSA Bd. 20, S. 163
 
 Erläuterung zu: Abhandlung ###252;berAbhandlung über den Charakter des Fallstaff wird von ihm erscheinen in der
 Erläuterung zu: Orpheusmünchener Zeitschrift: Orpheus. Er hat noch manches andre Critische unter
 Erläuterung zu: den Anfangder Feder gehabt; so wie ich auch den Anfang einer Charaktristik der Heineschen
 Erläuterung zu: Schrifft ###252;ber G###246;theTragödien unter seinen Papieren gesehen. Seine kritische Schrifft über Göthe
5hält er selbst für nicht bedeutend. So wie er überhaupt noch nicht weiß worinn
 Mitteilung zu: Forceeigentlich seine Force besteht. Wir haben viel über Göthe gesprochen, daß ich
 des rasenden Göthianers, der zu Lüneburg an der Amtskette liegt, oft erwäh-
 nen mußte versteht sich von selbst. An so viele meiner Gedanken knüpft sich
 Erläuterung zu: von Sydowsche Schilderungjetzt Ihr Name, Lieber Christiani. Die freyherrlich von Sydowsche Schilderung
10Immermanns paßt ganz und gar nicht. Letzterer hatte aber auch dem armen
 Mitteilung zu: schlimmTeufel gar zu schlimm mitgespielt. Bey einer schönen Dame, wofür beide
 flammten, wurde mit vertheilten Rollen Göthes Tasso gelesen; natürlich, der
 ritterliche Deklamator, der um zu brilliren sich die Rolle des Tasso genommen
 hatte, las dieselbe zu schulknabenhaft schlecht, und der boßhafte Immermann,
15der den antonio übernommen hatte, las denselben etwas zu schulmeisternd gut
 indem er manche Stellen zu anzüglich aussprach durch ironischen Blick und
 Betonnung mit den Worten des Antonio eigentlich den armen Baron aus-
 hunzte, bis derselbe pikirt und pikirter, aus der Fassung gebracht, und ordent-
 lich wüthend wurde.
20Erläuterung zu: Lord Byron  Während ich dieses schreibe erfahre ich daß mein Vetter, Lord Byron, zu
 Missolungi gestorben ist. So hat auch dieses große Herz aufgehört zu schlagen!
 Es war groß u ein Herz, kein kleines Eyerstöckchen von Gefühlen. Ja
 dieser Mann war groß, er hat im Schmerze neue Welten entdeckt, er hat den
 miserabelen Menschen und ihren noch miserableren Göttern prometheisch
25Mitteilung zu: getrotzt,getrotzt, der Ruhm seines Namens drang bis zu den Eisbergen Thules und bis
 Erläuterung zu: take him alin die brennenden Sandwüsten des Morgenlandes. take him al in al, he was a
 man. Wir werden sobald nicht mehr seines Gleichen sehen.
   Ich habe überall Trauer ansagen lassen. Die englische Literatur steht jetzt nur
 Mitteilung zu: Unserenoch auf zwey Augen – Scott und Moore. Unsere Literatur ist ganz und gar blind.
30  Es ist ein überaus schlechtes Wetter, daß ich fast glaube es ist von Clauren.
 Erläuterung zu: drey und dreyzigMeine „drey und dreyzig“ haben in Berlin höchst merkwürdige Schicksale
 gehabt. Bis zu dem Himmel erhoben als das extra-Neueste unserer Literatur,
 und dann wieder bis in den Koth herabkritisirt als geistlose Verirrung der Zeit.
 Erläuterung zu: Man klagtMan klagt der Ruhm habe mich verführt diese leichten Sachen sorglos eilig
35hinzuschreiben, so daß die Spur solcher Flüchtigkeit überall sichtbar sey.
 Erläuterung zu: mein BruderLetzteres schrieb mir auch mein Bruder aus Lüneburg, der in Hamburg viel
 kritisches über mich gehört haben will, z. B. daß ich kein Deutsch verstände.
 Erläuterung zu: Der RedakteurDer Redakteur der posener Zeitung, ein Pole, hat dieses ebenfals behauptet in
 seinen Streitschriften gegen mich.
 
  Mai 1824 — HSA Bd. 20, S. 164
 
   Am Rhein u in Westfalen, hör ich sollen meine Tragödien zwar sehr viel
 Mitteilung zu: abergelesen, aber noch nicht so recht verstanden u goutirt werden. Desto mehr
 Erläuterung zu: knoppertknoppert man behaglich an den Gedichten, über deren Rüdesse man noch
 allgemeine Klage führt.
   
5Erläuterung zu: Doch die Kastraten klagten
 Doch die Kastraten klagten
 Als ich meine Stimm erhob;
 Sie klagten und sie sagten:
 Ich sänge viel zu grob.
 
 Und lieblich erhoben sie alle
10Die kleinen Stimmelein,
 Die Trillerchen, wie Kristalle,
 Sie klangen so fein und rein.
 
 Sie sangen von Liebessehnen,
 Von Lieb' und Liebeserguß!
15Die Damen schwammen in Thränen
 Bey solchem Kunstgenuß!
 
 Erläuterung zu: dessen Zeitschrift  Rousseaus „Buch der Sprüche“ so wie auch dessen Zeitschrift werden Sie
 durch meinen Bruder zu Gesicht bekommen haben. Er schreibt mir unendlich
 viel Liebes und fordert mich auf ihm Mitarbeiter für seine Zeitschrift zu
20werben. Und da sollen Sie nun die ersten Laute meiner Werbetrommel zu
 hören haben, und ich hoffe daß ich in 14 Tagen ein Paquetchen Prosa oder
 Verse zur Spedizion nach Cölln von dem Doctor Christiani erhalte. Ich bitte
 Erläuterung zu: in B###228;nkenSie, bezwingen Sie sich mahl etwas herauszulangen, Sie haben so viel gutes in
 Bänken und können wenn Sie wollen so viel Gutes liefern. Geben Sie die
25Erläuterung zu: UebersetzungsfragmenteUebersetzungsfragmente aus dem dänischen, oder den Aufsatz über Göthe –
 Geben Sie! Geben Sie!
   Ich bin in Berlin ebenfals sehr angegangen worden bald etwas Großes
 Mitteilung zu: wiederwieder herauszugeben u habe versprochen nächste Ostermesse 2 Bände zu
 Erläuterung zu: an einerliefern. In Bänken ist aber noch nichts außer Bagatellen; doch bin ich jetzt an
30Erläuterung zu: an die Trag###246;dieeiner großen Novelle, die mir sehr sauer wird. Sobald diese fertig ist gehe ich an
 Erläuterung zu: an einedie Tragödie u dann an eine längst projektirte wissenschaftliche Arbeit. Nur
 leide ich noch gar zu sehr an meinen Kopfschmerzen u bin gar zu sehr
 bedrückt von meinen juristischen Arbeiten. Beim alten Meister kriege ich die
 Pandekten los, u hoffe dies Jahr fertig zu werden.
35  Alsdann soll die Poeterey recht losgehn, denn im Grunde bessert es sich
 auch mit meinem Kopfe immer mehr u mehr. – Indien und Mittelalter
 beschäftigen mich ebenfalls. – Ich lebe ganz isolirt, und ziehe mich von allen
 
  Mai 1824 — HSA Bd. 20, S. 165
 
 Erläuterung zu: Pomade! Das hat schon Zizero gesagtMenschen zurück. Giebts doch nichts süßeres als die Pomade! Das hat schon
 Zizero gesagt.
 Mitteilung zu: aus  Ihren letzten Brief erhielt ich 1/2 Stunde vor meiner Abreise nach Berlin,
 und könnte sehr leicht sagen daß er zu spät angelangt sey um Ihren Auftrag in
5Mitteilung zu: ausf###252;hrenBetreff der jouischen Uebersetzung ausführen zu können; – um nicht geste-
  hen zu brauchen daß es mir trotz aller Mühe nicht möglich war. Mit den mir
 Erläuterung zu: Christianibekannten Buchhändlern habe ich vergebens deßhalb gesprochen, Christiani
 ist unbedeutend u mir unbekannt, überhaupt glaube ich nicht daß ein
 Mitteilung zu: auf b e r l i n e r  Buchhändler auf eine schon so verjährte französische Schrift reflek-
10Mitteilung zu: auchtiren würde; so wie ich auch das liter. Erscheinen mit  s o l c h e r  Ueber-
  setzung als Ihrer ganz unwürdig halte. Geben Sie doch was Tüchtiges heraus.
 Der Tod Byrons hat mir so den Kopf verwirrt daß ich gar nicht weiß was ich
 schreibe u daß Sie Noth haben werden zu verstehen, was ich oben gesagt in
 Erläuterung zu: Pomademaniermeiner kauderwelschen Pomademanier. Indessen kann ich doch gut deutsch
15schreiben wenn ich just will. – Schreiben Sie mir wie Ihnen Herr Spitta
 Mitteilung zu: J###252;nglinggefallen hat, es ist ein reiner Jüngling, wovon Sie sich gewiß sehr angesprochen
 finden werden, u er hat auch eine Menge Lieder, Romanzen, Novellen,
 Opern, Tragödien u. s. w. gedichtet u wird mit den holden Klängen seiner
 Laute einst alle fühlende Herzen deutscher Jünglinge u Jungfrauen –
20  Ich werde hier wieder unterbrochen. Leben Sie wohl, Byron ist todt, schlecht
 Wetter, seit 5 Uhr gearbeitet, Anwandlungen von Pietismus, schreiben Sie
 bald u seyn Sie überzeugt daß ich mit ganzer Seele bleibe
   
 
Ihr Freund
 
H. Heine.
25wohne: bey Ebervein auf der Gronerstraße